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Festigkeit von Glasscheiben mit Oberflächenschäden

Störende oder zerstörende Kratzer?

Im aktuellen Beispiel aus jüngster Zeit, wurde wieder einmal verlangt, dass Scheiben in Überkopfverglasungen ausgetauscht werden müssen, weil sie bei der Reinigung verkratzt wurden. Dies nimmt der „Sachverständigen-Arbeitskreis Glas“ zum Anlass, die Thematik der Festigkeit von Glas sowie der Festigkeitsminderung durch Oberflächenschäden aufzugreifen.

Festigkeit von Glasscheiben

Die theoretische Bruchfestigkeit des Werkstoffs Glas ergibt sich aus den Bindungskräften zwischen seinen Elementarbausteinen (Atome, Ionen, Moleküle). Eine ideale Glasscheibe ohne Oberflächenschäden hätte eine theoretische Bruchfestigkeit in der Größenordnung 700 bis 900 N/mm². Bei nach modernen Verfahren hergestelltem Flachglas spielen diese Bindungskräfte jedoch in der Praxis eine untergeordnete Rolle.

Die zur rechnerischen Dimensionierung von Glas heranzuziehende zulässige Bruchfestigkeit von Flachglasprodukten liegt in sehr erheblichem Maß unterhalb der rein theoretisch möglichen Bruchfestigkeit. Dies ist eine Folge der Sprödigkeit des Werkstoffs Glas, sowie der erheblichen Festigkeitsminderung aus in der Praxis unumgänglichen leichten Oberflächenschäden, wie etwa Reinigungskratzern etc. So liegt die sich hierbei ergebende Bruchfestigkeit von Glas dann nur noch zwischen 100 und 150 N/mm².

Belastet man eine Glasscheibe durch mechanische Lasten, wird die der Lasteinwirkung gegenüberliegende Glasoberfläche aufgrund der Durchbiegung unter Zugspannungen (Biegezugspannungen) versetzt. Weist diese Glasscheibe Oberflächenschäden in Form von Kratzern oder Rissen auf, so kommt es zu Spannungsüberhöhungen an den Rissspitzen. Wird hier die Festigkeit der Bindungskräfte überschritten, kommt es zu überkritischem Risswachstum und zum Glasbruch.

Ermittlung der notwendigen Dicke

Bei der Bemessung der notwendigen Dicke einer Glasscheibe gegenüber Lasteinwirkungen (z.B. Windlast), spielt der Rechenwert der zulässigen Biegezugspannung für die jeweilige Glassorte in Abhängigkeit von der Anwendung eine wesentliche Rolle.

Die zulässigen Biegezugspannungen für die jeweilige Glassorte sind für die Anwendungen „Überkopfverglasung“ und „Vertikalverglasung“ in den vom Deutschen Institut für Bauwesen herausgegebenen „Technische Regeln für die Verwendung von linienförmig gelagerten Verglasungen (TRLV) – Schlussfassung August 2006“ in der Tabelle 2 vorgegeben.

Die hier rechnerisch anzusetzenden zulässigen Biegezugspannungen sind auf Basis der Ergebnisse von Versuchen festgelegt worden, die bereits in den 90er Jahren anlässlich der Harmonisierung der nationalen Normen zu einer einheitlichen Europäischen Norm der Glasdickenbemessung in der Europäischen Glasindustrie durchgeführt wurden.

Im Vorfeld dieser Versuche wurden Überlegungen angestellt, wie man die im Laufe der geforderten 50-jährigen Gebrauchsdauer einer Glasscheibe schädigenden und festigkeitsmindernden Einflüsse, wie zum Beispiel die Reinigung von Glas, berücksichtigen kann, um nicht der Kritik ausgesetzt zu sein, die Glasdickenbemessung mit unrealistischen idealen Werten vorzunehmen.

Man löste diese Schwierigkeit, indem man die Versuche an vorgeschädigten Proben vornahm, bei denen der Schädigungsgrad so hoch gewählt war, dass er im normalen praktischen Einsatz nicht erreicht wird („Worst Case“).

Die Prüfscheiben wurden vorgeschädigt durch:

  • trockenes Schmirgeln mit Schleifpapier der Körnung 220
  • durch Berieseln mit Korund P 16.

Diese Vorschädigung war so stark, dass das Glas getrübt erschien und fühlbare Kratzer bzw. Krater aufwies. Bei den geschmiergelten Proben ging man aufgrund der Körnung des Schleifpapiers von einer Tiefe der Kratzer von bis zu 0,1mm aus. Es wurden ferner 168 Messungen der Festigkeit an ausgebauten Fensterscheiben vorgenommen, die etwa 20 Jahre eingesetzt waren.

Die Ergebnisse dieser Prüfungen rechtfertigen den Schluss, dass die oben beschriebenen Vorschädigungen für den Einsatz von Glas im Bauwesen als „Worst Case“ angesehen werden dürfen.

Vereinfacht ausgedrückt sind die aus den Prüfungen entstandenen Werte der Biegzugfestigkeit verschiedener Glassorten dann im Rahmen der Festlegung von zulässigen Rechenwerten für die Praxis zusätzlich nochmals mit Sicherheitsbeiwerten belegt worden. Hieraus entstanden dann die in der Tabelle 2 der TRLV festgelegten zulässigen Biegezugspannungen.

Auswirkungen auf die Praxis

Die Erkenntnisse aus den Versuchen mit der praxisbezogenen Vorschädigung der Glasoberflächen zeigt, dass Oberflächenschäden, die im Rahmen von selbstständigen Beweisverfahren oder Rechtsstreitigkeiten von öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen zu bewerten sind, nicht zwangsläufig zum Austausch der Scheiben führen müssen. Die Festigkeitsminderung durch praxisbezogene Oberflächenschäden (z.B. Reinigungskratzer) wurde bei der Festlegung der Rechenwerte der zulässigen Biegezugspannungen bereits berücksichtigt.

Danach müssen verkratzte Fensterscheiben, die schon wegen optischer Geringfügigkeit der Kratzer nicht auszutauschen sind, auch nicht wegen ihrer verminderten Festigkeit ausgetauscht werden.

Dies gilt auch im Anwendungsfall einer Überkopfverglasung, wie dies im eingangs erwähnten Beispiel der Fall war.

Der Arbeitskreis dankt Herrn Dr. Kurt Blank, Aachen für die zur Verfügung Stellung von Unterlagen aus der Zeit der Ringversuche, ohne die der Praxisbezug der jetzigen Werte der zulässigen Biegezugspannungen in Vergessenheit geraten wäre.|

Wolf-Dietrich Chmieleck

Info

Die Mitglieder des Arbeitskreises Glas sind öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige:

Dipl.-Ing. Dieter Balkow, Schweizerisches Institut für Glas am Bau, CH 8952 Schlieren, http://www.sigab.ch

Dipl.-Ing. Wolf-Dietrich Chmieleck, IGA Institut für Glasanwendung, 58456 Witten, https://www.iga-chmieleck.de/

Dipl.-Ing. Elmar Jochheim, AMP GbR, 41470 Neuss, https://www.ib-amp.de/

Dipl.-Ing. Hans-H. Zimmermann, IGF Zimmermann, 45468 Mühlheim/Ruhr, https://igf-zimmermann.de/

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