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Glasversagen (Teil 1)

Was bewirkt den Spontanbruch?

Eine Spannungsumlagerung, wie sie beim Stahl durch plastizieren (verformen) bekannt ist, ist im Glas nicht möglich. Die wesentlichen mechanischen Merkmale von Baugläsern sind ihr rein elastisches Materialverhalten und ihr komplexes Bruchverhalten.

Das Versagen von Glas beginnt im Grunde bereits bei seiner Herstellung. Beim Floatglasverfahren, das seit etwa 60 Jahren die bevorzugte Herstellungsmethode für Fensterglas ist, entstehen auf der gesamten Glasscheibenoberfläche mikroskopisch kleine Störungen bzw. Risse mit einer Tiefe von etwa 10µm. Bei z.B. einer Biegung konzentriert sich die Zugspannung an diesen Störungen (Bild 1). Erreicht die Spannung am Rissursprung die Glasfestigkeit, kommt es zum spontanen Bruch der Scheibe.

Die theoretische oder auch molekulare Festigkeit von Glas ist abhängig von den Bindungskräften zwischen den Atomen bzw. Molekülen. Die theoretische Festigkeit oder maximale Spannung, die die Bindung zwischen zwei Atomen im Glas aufzubrechen vermag, lässt sich mit folgender Formel abschätzen:

σ th ≈ E / 10

Bei einem anzunehmenden Elastizitätsmodul (E) von 70000 N/mm2 wird die theoretische Festigkeit von Alkalisilikatglas (Bauglas) demnach in einer Größenordnung von ca. 7000 N/mm2 angenommen. Diese der Festigkeit entsprechende extrem hohe Zugspannung, muss am Rissursprung auftreten, damit der Riss wachsen kann.

Die Bruchfestigkeit von Glas ist also keine Materialeigenschaft im eigentlichen Sinne, sondern sie hängt von der Größe und Lage einer Oberflächenstörung zur vorhandenen Zugspannungsrichtung ab. Die dazu notwendige Biegezugspannung liegt um ein Vielfaches unterhalb der theoretischen Festigkeit von Glas und kann für werkseitig neues Floatglas mit etwa 45 N/mm2 angenommen werden. Da Glas im Gebrauchzustand ständig Oberflächenkontakte „erleidet“, steigt mit der Zeit die Anzahl der Oberflächenstörungen und mit zunehmendem Gebrauchsalter die Wahrscheinlichkeit, dass eine örtliche Spannung auf eine kritische Risstiefe, oder allgemein ausgedrückt, auf eine Vorschädigung trifft (Bild 3). Damit lässt sich aber noch nicht das zeitabhängige bzw. plötzliche Versagen von Glasscheiben erklären.

Ursachen des Glasversagens

Beim Versagen von Glasscheiben führen chemische Prozesse (Diffusion) am Rissursprung zum Aufbruch der atomaren Bindungen. Kommt Wasser in Kontakt mit Glas (Bild 2a) führt das zu einer chemischen Reaktion des Silikatglases mit dem Wasser. Diese Reaktion ist als Absorption von Wasser in die Glasoberfläche anzusehen (Bild 2). Dabei kommt es zu einer Reaktion des Wasserstoffsmoleküls mit dem Sauerstoff des Siliziumoxyds (Bild 2b). Das Ergebnis sind freie Wasserstoffenden, die am Rissursprung den Spalt weiter öffnen (Bild 2c). Diese Wasserstoffenden bilden an der Glasoberfläche eine regelrechte Gelschicht aus, die auch das Verkleben von Glas negativ beeinflusst. Unter Zugspannung rückt der Riss jetzt zum nächsten Molekül vor, womit wiederum die Spannung am Rissursprung ansteigt. Dieser Prozess wird auch als subkritisches Risswachstum bezeichnet.

Sobald die Bindungsfestigkeit der Glasmoleküle erreicht ist, kommt es zu einer extrem schnellen Zunahme des Risswachstums (überkritisches Risswachstum) und damit zum spontan erscheinenden Bruch der Scheibe.

Dieses Phänomen wird häufig auch als statische Ermüdung bezeichnet. In Bild 3 ist die abnehmende Glasfestigkeit mit einer Belastungsdauer von bis zu 50 Jahren grafisch dargestellt. Bereits eine Stunde nach Herstellung verringert sich die Glasfestigkeit um etwa 20%, nach einem Monat beträgt sie ca. 50% und nach 50 Jahren nur noch etwa 30% der ursprünglichen Bruchfestigkeit.

Da die Spannung mit dem Risswachstum ansteigt, wird der Riss beschleunigt und „rast“ durch das Glas, überschreitet er eine bestimmte Geschwindigkeit kommt es zum Aufspalten der Rissfront in mehrere Verästelungen mit geringerer Geschwindigkeit. So entsteht das typische Bruchbild von Floatglas. Die Festigkeit von Glas lässt sich jedoch durch Vorspannen deutlich erhöhen.

Aus dem Bruchverhalten von Glas ergeben sich eine Vielzahl von verschiedenen Einflüssen auf die „Glasfestigkeit“ bzw. das Risswachstum.

Vorgespannt ist nicht gehärtet

Vorgespanntes Glas wird häufig fälschlicherweise als gehärtetes Glas bezeichnet. Die Gläser werden mit einer Druckvorspannung auf der Glasoberfläche versehen. Da Glas auf Grund von Zugspannung an der Oberfläche versagt, müssen die eingeprägten Druckspannungen erst „überzogen“ werden, damit es zum Risswachstum kommen kann. Das Glas wird nicht härter, sondern die Biegezugfestigkeit des Glases wird erhöht.

Für die Baupraxis von geringer Bedeutung sind chemisch vorgespannte Gläser, bei denen durch Ionenaustausch in einem Tauchbad die Oberfläche eine extrem hohe Druckvorspannung erhält. Bei der thermischen Methode wird die Floatglasscheibe bis zum Transformationspunkt (ca. 640°C) erhitzt. Wenn die gesamte Glasmasse diese Temperatur erreicht hat, wird sie schlagartig mit kalter Luft angeblasen. Die spezifische Wärmeleitfähigkeit des Glases bewirkt ein unterschiedliches Abkühlen der äußeren und der inneren Bereiche der Scheibe. Die Oberfläche überschreitet rasch den Erstarrungsbereich, wohingegen sich der innen liegende Scheibenkern langsamer abkühlt. Dabei werden Spannungen über den gesamten Querschnitt so aufgebaut, dass der sich abkühlende und dabei zusammenziehende Kern Druckspannungen in den äußeren Bereich einprägt und gleichzeitige ausgleichende innere Zugspannungen aufbaut.

Über die Abkühlungsgeschwindigkeit lässt sich die Größe der eingeprägten Spannung beeinflussen. Durch rasches Abkühlen bzw. bei einer hohen eingeprägten Spannung entsteht im Falle der Zerstörung des Glases ein engmaschiges Netz von kleinen Glaskrümeln. Wird der Abkühlungsprozess langsamer induziert, ist die eingeprägte Spannung geringer und die Bruchstücke vergrößern sich (Bild 4).

Aus dem Bruchverhalten von Glas ergeben sich eine Vielzahl von verschiedenen Einflüssen auf die „Glasfestigkeit“ bzw. das Risswachstum. Die Größe, Richtung und Lage der Bruch auslösenden Spannung sind von der Belastung und der Auflagerung der Glasscheiben abhängig.

Im zweiten Teil der Artikelserie wird die örtliche Lage und Größe der Bruch auslösenden Spannungen in Fensterglasscheiben dargestellt und erläutert.—

Der Autor

Dr.-Ing. Hanno Sastré studierte in Wuppertal Architektur und ist gegenwärtig am ITE der TU Graz in Forschung und Lehre tätig.

Tel. +43 31 68 73 - 67 13 mail: h@nnosastre.de

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