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DAS FENSTER — ENTWICKLUNGSGESCHICHTE UND STILEPOCHEN, TEIL 2

Fischblasen oder Kuhhäute

Der wohl berühmteste Architekt ­ der Bauhaus-Ära, Charles-Édouard Jeanneret-Gris, besser bekannt unter dem Pseudonym Le Corbusier, brachte es einst auf den Punkt: „Die Geschichte der Architektur ist die Geschichte des Fensters“ – zu Anfang wohlweislich noch ganz ohne Glasscheiben. Denn von den ersten bleiverglasten, kleinformatigen Butzengläsern bis zur Eröffnung des „Crystal Palace“ (Kristallpalast) im Jahr 1851 zur Weltausstellung in London war es ein sehr weiter Weg. Immerhin leitete dieser weltweit erste gläserne Monumentalbau des Architekten Sir Joseph Paxton die industrielle Fertigung des einst so kostbaren Baustoffs Glas ein und machte damit die Verglasung der Fenster bald für jedermann erschwinglich.

Fenster ohne Glas

Die Geschichte des Bauelements „Fenster“ ist jedoch zumindest seit dem Mittelalter untrennbar mit dem technischen Entwicklungsstand der Glasproduktion verbunden. Zwar gelang es syrischen Handwerkern bereits 200 v. Chr. mit der Erfindung der Glasmacherpfeife dünnwandige Hohlgefäße herzustellen. Bis die Glasbläser aber endlich das technische Know-how erlangt hatten und über genügend bezahlbare Rohstoffe verfügten, um mehr oder weniger plane Glasscheiben produzieren zu können, gingen nochmal mehr als 1500 Jahre ins Land. So lange waren „fenestrae“, wie zum Beispiel die Römer die Licht- und Luftöffnungen in ihren Häusern nannten, nichts weiter als zugige Löcher („Windaugen“) in der Wand. Die Form und Größe der Fenster ergab sich lange Zeit alleine aus der Lösung des Problems, die Öffnung in der Wand entweder mit einem stabilen Sturzbalken oder einem Entlastungsbogen zu überbrücken. Als Wind- und Wetterschutz dienten überwiegend tierische Materialien wie Fischblasen oder die Haut von Kuh- und Kälbermägen.

Zwar waren die Römer bereits sehr früh in der Lage, auf ebenen Steinen kleine Glasplatten mit Sand als Trennmittel zu gießen. Jedoch ließen diese fünf bis sechs Zentimeter dicke Platten nur wenig Licht durch, da sie zudem auf der einen Seite sehr rau waren. Erst im 18. Jahrhundert war die Handwerkskunst so weit fortgeschritten, neben kleinformatigen Glasscheiben auch Beschläge und Verschlüsse herzustellen, um die Fensterflügel einigermaßen bequem öffnen zu können. Neue Erfindungen in der Glasherstellung erlaubten nicht nur größere Scheibenformate, sondern verbesserten auch die Glasqualität und nach der ersten Energiekrise in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch den Wärme- und Schallschutz der Fenster insgesamt.

Doch um auf Le Corbusier zurückzukommen: Unabhängig von ihrer technischen Entwicklung waren, sind und bleiben Fenster die Augen des Hauses – ob als schlichtes Loch in mittelalterlichen Burgen und Kastellen, als einfache Öffnung in Bauernhäusern und Scheunen, als aufwendiges, farbenfrohes gotisches Maßwerk oder als modernes Flügelfenster aus Holz, Metall oder Kunststoff.

Aus Fugen werden Fenster

Wenn die Florentiner in der Blütezeit der Renaissance die hölzernen Läden ihrer Fensteröffnungen aufstießen, war da nichts als der ungehinderte Ausblick in die Weiten der Toscana.

Nur die wenigsten konnten es sich leisten, zwischen die Fensterstöcke ölgetränkte Leinenstücke oder Pergament zu spannen. Wer umziehen musste, hängte die teure „Fenstermöblierung“ ab und nahm sie mit. Unebenes, verzerrendes Flachglas für Fensterscheiben war zwar vereinzelt im römischen Reich bekannt, aber in Mitteleuropa bis zum Ende der Gotik praktisch nicht erhältlich. Einzig in sakralen Bauten traf man hier und da auf dünne, lichtdurchlässige Scheiben aus Alabaster, Glimmer oder Marmor.

Entwickelt hat sich das Fenster ursprünglich aus zwangsweise vorhandenen Fugen in den frühesten Wohnungen des Menschen, den Höhlen und Hütten. Diese Öffnungen im Dach und in den Wänden wurden im Lauf der Zeit gezielt ver­größert oder auch begrenzt.

Bei den ersten Steinhäusern verzichtete man einfach auf ein paar Steine, um Licht und Luft hereinzulassen – ­später rahmte man diese Öffnungen mit Holz oder Steinbalken ein.

Das große Problem dieser Öffnungen war jedoch, dass sie nicht verschlossen werden konnten, ohne dabei die Licht- und Luftzufuhr zu kappen. Die ersten Fensterverschlüsse aus Stein, Fellen, Flechtwerk und Brettern boten zwar Schutz vor Einblicken und schützten in entsprechend stabiler Bauweise vor ungebetenem Gesindel und Dieben, jedoch ward es sofort dunkel im Zimmer und der Kaminrauch machte das Atmen schwer, sobald man die Fensterlöcher notdürftig verbarrikadierte.

Vom Rechteck zum Maßwerk

Was die Baumeister jedoch immer weiter perfektionierten, war das Überbrücken der Wandöffnungen mit Holz- und Steinbalken, Gewölben und Bögen, um die Last der darüber liegenden Wand abzuleiten. Im antiken Griechenland avancierte das Fenster schließlich zum architektonischen Gestaltungsmittel, ebenso bei den Römern, die erstmals Glas als lichtdurchlässigen Baustoff in die kastenartigen Fenstergewände, teilweise mit Mittelstützen, einsetzten. Sturz, Gewände und Sohlbank gerieten zum festen Bestandteil eines Fensters, jedoch blieben die meist rechteckigen Fensteröffnungen weiterhin im eher kleinen Format, um Witterung und ungebetene Gäste außen vor halten zu können. Ausgehend vom Rundbogen in der Romanik entwickelte sich das Bogenfenster über den Spitzbogen der Gotik zu zahlreichen gestalterischen Varianten wie Ellipsenbogen, Korbbogen und Segmentbogen.

Die erste größere Fensteröffnung war das gotische Maßwerk, in das viele bunte Bleiglasfenster eingesetzt wurden, die, kunstvoll zusammengesetzt, verschiedene biblische Szenen darstellten. Für die Bevölkerung aber war gefärbtes Glas aus Venedig, Frankreich oder Flandern bis ins späte Mittelalter unerschwingliches Luxusgut.

Ab dem 11. Jahrhundert leistete sich vereinzelt der Adel für seine hochherrschaftlichen Bauten Fensterglas in Form von blanken, farbigen und bemalten Scheiben; nach und nach versahen auch zahlungskräftige Honoratioren die Fenster ihrer Stadthäuser mit dem wertvollen, zerbrechlichen Gut. Das vom feudalistischen System unterdrückte und geknechtete Landvolk musste sich dagegen mit Hütten und ärmlichen Behausungen ohne explizite Lichtöffnungen zufrieden geben. Lediglich durch die Rauch- und Lichtöffnung in der Decke drang etwas Tageslicht herein – wer es heller haben wollte, musste die Tür aufmachen.

Ab dem 12. und 13. Jahrhundert waren die Blockhütten mit ungefähr DIN-A3-große Wandöffnungen versehen, zum Schutz vor Dieben mit Brettern verriegelt und im Winter mit Fellen zugehängt, ohne Glas, ohne Anstrich und häufig ohne Beschläge. Bei geschlossenen Läden waren damit Belichtung und Belüftung nicht möglich.

Gewalt und Pest – die Fenster bleiben verschlossen

Um 1500 finden sich auch in den Wohn- und Arbeitsräumen der Bauern und Tagelöhner kleine Fensteröffnungen, die überwiegend mit Schiebeläden und mit mehr oder weniger transparenten Materialien wie gefirnisten Pergamenten, Hornplatten, Marienglas, durchbrochenen Steinplatten und Holzgittern verschlossen waren.

In den Häusern war es noch immer dunkel und stickig. Nur vereinzelt traf man auf in Blei gefasste Rauten oder Butzenscheiben. Damals dienten die Häuser in erster Linie dem Schutz ihrer Bewohner; es waren Fluchtburgen vor der alltäglichen Gewalt, Mord und Totschlag. Zudem ging die Angst um, die gefürchteten Pesterreger könnten durch die Fenster dringen – es war einfach nicht die Zeit, Wände mittels Fenster transparenter und damit auch unsicherer zu machen.

Klaus Siegele

Der Autor

Klaus Siegele, geb. 1963 in Stettfeld (Baden), studierte nach einer Schreinerlehre an der FH Karlsruhe Architektur. Er war 10 Jahre Redakteur bei der db deutsche bauzeitung und führt seit 2000 ein eigenes Architekturbüro in Ubstadt-Weiher. Er ist Fach- und Buchautor für Architektur, Bautechnik, Nachhaltigkeit und energieeffizientes Bauen und für viele Fachzeitschriften, u. a. den Gebäude-Energieberater GEB, tätig.

https://bau-satz.de/

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