Springe auf Hauptinhalt Springe auf Hauptmenü Springe auf SiteSearch
Interview mit Joachim Roehner

Bei Hitze knallt’s schneller

Bei thermischen Glasbrüchen steckt der Teufel oft in der Kante, sprich die Beschaffenheit der Schnittkante hat einen großen Einfluss auf die thermische Belastbarkeit einer Scheibe. Kommt es zum Bruch, gilt es die Kantenqualität zu beachten. Nicht immer trifft dabei die Diagnose "ESG notwendig" zu. Immer wieder gibt es Bruchscheiben, deren Versagen man nicht zwingend einem Ereignis zuordnen kann. Anhand des Bruchbildes auf der Fläche und an der Kante können Spezialisten häufig aber Rückschlüsse auf die Bruchursache ziehen. Profane mechanische Defekte wie Steinwürfe, Beschuss oder eine Vorschädigung beim Transport lassen sich relativ einfach und sicher erkennen. Und in der Regel findet man für solche Ereignisse auch immer einen Schuldigen, der den Bruch ausgelöst hat.

Weitaus schwieriger wird es bei thermisch bedingtem Glasbruch. Die Ursache „thermische Überlastung“ lässt sich anhand des Bruchbildes relativ einfach bestimmen. Typische thermisch bedingte Brüche beginnen am Rand und verlaufen im 90°-Winkel zur Fläche und Kante. Von dort aus verlaufen sie gegen die Glasmitte. Sie können sich verzweigen, müssen aber nicht. Thermische Brüche entstehen immer durch eine Überbeanspruchung aufgrund unterschiedlicher Wär­meausdehnung. Gläser dehnen sich in der Glasmitte durch Sonneneinstrahlung aus, im Randbereich bleiben sie eher kühl und damit formstabil. Im Randbereich, also genau dort, wo die Festigkeit am geringsten ist, baut sich viel Spannung auf. Darum ist bei thermischen Schäden der Ausgangspunkt eines Bruchs fast immer am Glasrand zu finden. Doch wie viel Wärme hält eigentlich ein normales Glas aus und welchen Einfluss haben die verschiedenen Faktoren?

Die GLASWELT befragte dazu den Glasspezialisten Joachim Roehner vom Ingenieurbüro RBGT.

Glaswelt – Warum hat das Schneiden von Glas so einen großen Einfluss auf die Glas­qualität? Was passiert beim Schneiden von Glas?

Joachim Roehner – Mit einem diamantbesetzten Schneidrad werden die Moleküle der Glasstruktur getrennt, es wird also ein definierter ­Anriss erzeugt. Genau dort bricht das Glas nachher ­ beim Anheben, und das ziemlich genau im 90°-Winkel zur Oberfläche. Wichtig dabei ist die Qualität des Schneidrades respektive dessen Schneideschärfe.

Glaswelt – Hat das Auswirkungen auf die Schnittqualität?

Roehner – Ja, ist das Schneidrad stumpf, entsteht anstelle einer sauberen Rille ein Zertrümmerungsbereich mit vielen oberflächlichen Abplatzungen, erkennbar als weißer Strich. Durch das Schneiden erzeugt man an der Kante in jedem Fall ein System von Anrissen. Diese reichen bei einem unsauberen Schnitt viel weiter in die Tiefe als bei einem sauberen. Diese Brüche nennt man Haifischzähne oder Mikrorisse. Anzahl, Umfang, Ausrichtung und Lage dieser Beschädigungen haben großen Einfluss auf die spätere thermische Belastbarkeit der Scheibe.

Glaswelt – Wie äußert sich das?

Roehner – Eine Scheibe mit einem perfekten Schnitt, das heißt, einseitig angeritzt und sauber gebrochen, widersteht einem Temperaturunterschied von bis zu 80Kelvin (K), ohne dass sie spontan bricht. Bei einem schlechten Schnitt kann dieser Wert bis auf 10K sinken. Das heißt, bei der kleinsten Belastung bricht das Glas.

Glaswelt – Heißt es nicht, dass Floatglas zwischen 35 und 40K aushält. Wie kommt das?

Roehner – Dieser Wert ist nicht sakrosankt und man kann nur theoretisch von dieser Eigenschaft ausgehen. Die EN 572 sagt zu diesem Problem Folgendes: „Floatglas soll Temperaturunterschiede von 40K aushalten, dieser Wert kann aber durch die Kantenqualität beeinflusst werden.” Diese maximal 40K decken aber nur einen gewissen Streubereich ab und mehr nicht. Die Belastbarkeit ist dabei kein zugesicherter Wert. Für die Glasverarbeiter ist dieser Zusatz ein Freibrief, um sich aus der Verantwortung zu winden. Da könnten sich die Fensterbauer noch viel deutlicher einbringen und die Glasverarbeiter in die Pflicht nehmen.

Glaswelt – Wie erkennt man, ob ein Bruch thermische oder mechanische Ursachen hat?

Roehner – Mechanische Beschädigungen am Glasrand folgen immer der schwächsten Struktur. Das heißt, an der Kante verlaufen sie nicht rechtwinklig zur Glasoberfläche, das wäre Zufall. Der Winkel zur Glaskante ist genauso nie rechtwinklig. Beim Thermosprung sind beide Winkel immer 90°. Andere von Auge sichtbare Erkennungsmerkmale gibt es nicht, denn auch bei einem Bruch mit mechanischer Ursache muss keine Gewalteinwirkung sichtbar sein. Wenn etwa bei einer Pfosten-Riegel-Konstruktion örtlich zu viel Pressdruck ausgeübt wurde, gibt es auch keine Kantenbeschädigung.

Glaswelt – Und wie erkennt man bei einem ther­mischen Bruch wie hoch die Einwirkung war, wenn die Schnittkante die Belastbarkeit so extrem beeinflusst?

Roehner – Zum einen kann man aufgrund des Bruchbildes allgemeine Aussagen machen. Gibt es nur einen linearen Sprung zur Mitte, war die Einwirkung und damit der Temperatur­unterschied klein. Das deutet auf eine schlechte Kantenqualität hin. Gibt es aber Verzweigungen im Bruch, deutet das auf eine massive Belastung hin, der Temperaturunterschied war entsprechend hoch. Vereinfacht gesagt, kann man aufgrund der Anzahl an Verzweigungen auf die Energieeinwirkung schließen.

Glaswelt – Kann das der Fensterbauer be­weisen und Schadenersatz fordern?

Roehner – Eigentlich schon, er muss einfach einen Gutachter suchen, der die entsprechenden Expertisen machen kann. Es gibt zum Beispiel an der Universität Darmstadt Fachleute, die am Bruchursprung an der Glaskante mittels mikroskopischer Bruchstrukturanalyse ziemlich genaue Angaben über die Auslöseenergie machen können. Anhand des Radius am Bruchspiegel kann man die aufgetretene Energie und dadurch ebenfalls die Temperaturbelastung sehr genau abschätzen. War diese Wärmebelastung sehr tief, kann man bei den Glasverarbeitern intervenieren. Wenn Fensterbauer richtig argumentieren können, ­haben sie gute Chancen. Die Schnittqualität an der Kante ist auch für Glaslaien einfach abschätzbar.

Glaswelt – Wie argumentieren denn die Glasver­arbeiter bei solchen Schäden?

Roehner – Sie kontern bei einem thermischen Glasbruch oft mit dem Hinweis: „Da hätte man ESG einsetzen sollen, die Belastung war für Floatglas zu hoch” und bei der Ersatzscheibe baut man dann ESG gegen Mehrpreis ein. Um aber überhaupt intervenieren zu können, muss das Bruchbild auf eine niedrige Bruchenergie hinweisen und die Kante muss sichtbar schlecht geschnitten sein. Nur dann haben Fensterbauer reelle Chancen, Schadenersatz geltend zu machen.

Glaswelt – Welche Gläser sind denn ­besonders heikel?

Roehner – Es geht hier vor allem um Gläser mit erhöhter Belastung, wie die mittlere Scheibe bei Dreifachaufbauten, Gläser bei Hebeschiebetüren, aber auch bei Küchenrückwänden oder bei Fensterkonstruktionen mit raumseitig schweren Vorhängen. Diese Einbauarten verursachen thermischen Stress für die Scheiben. Zudem besteht bei VSG-Scheiben immer ein erhöhtes Risiko. Das kor­rekte Schneiden der Verbundscheiben ist schwieriger und verlangt mehr Aufmerksamkeit für eine korrekte Ausführung.

Glaswelt – In welcher Hinsicht? Was macht das Schneiden so schwierig?

Roehner – Beim Schneiden verletzt man die Scheibe einseitig, setzt dort die Zugfestigkeit herab, das Glas bricht an der vorgesehenen Stelle. Schneidet man bereits lamellierte Tafeln, muss oben und unten angeritzt und in ­einer Wiegebewegung gebrochen werden. Dabei wird die Sollbruchstelle ungünstig belastet, was zu einem weniger guten, teilweise regelrecht zerhackten Bruchbild führt. Zudem sind die beiden Schnitte oft nicht deckungsgleich.

Glaswelt – Was kann man tun, um auf der sicheren Seite zu sein?

Roehner – Indem man die Kanten schleift – und zwar mit so hohem Materialabtrag, dass alle Unregelmäßigkeiten vom Zuschnitt wegfallen. Das senkt das Bruchrisiko enorm. Viele Anwendungen, bei denen heute ESG-Gläser eingesetzt werden, ließen sich sehr gut entweder mit gut geschnittenen Floatgläsern oder noch besser mit geschliffenem Floatglas ohne Probleme ersetzen. Natürlich entstehen durch das Schleifen neue Mikrorisse an der Glaskante, diese sind aber berechenbar und haben kaum Einfluss auf das Bruchrisiko. Kanten schleifen bedeutet aber nicht, dass man aus thermischer Sicht in jedem Fall auf ESG verzichten kann. Bei stark ausgesetzten Scheiben macht das Härten Sinn. Zudem sollte man bei exponierten Scheiben bereits in der Planungsphase eine Thermische Spannungsanalyse (TSA) ins Auge fassen, das würde sich in vielen Fällen lohnen.

Glaswelt – Wie sollen Betroffene vorgehen, wenn sie vor einem thermischen Glasbruch stehen?

Roehner – Zuerst soll man unbedingt die Scheibe sichern. Das heißt, im Bruchbereich die Teile möglichst zusammenhängend erhalten, indem man flächig eine klare Folie aufklebt. Nur so wird das entscheidende Bruchstück für eine Untersuchung gesichert. Dann gilt es, die Glaskante auf die Zuschnittqualität zu untersuchen. Die detaillierte Analyse lohnt sich natürlich nur, wenn es um viel Geld geht. Zumindest aber die Schnittkante sollte man immer visuell untersuchen und im Zweifelsfall auf den Glasverarbeiter zugehen. Kurz nach dem Einbau ist das Risiko am größten und nimmt danach ab, aufgrund chemischer Reaktionen an den Kanten und weil die ­Spannungsverhältnisse im Glasgefüge sich positiv verändern. —

Joachim Roehner

Der Diplomingenieur hat an der Hochschule für Technik in Stuttgart ein Studium mit Schwerpunkt Bauphysik/Gebäudesimulation absolviert. Danach hat er sich auf das Thema „Thermische Glasstressanalysen” spezialisiert und für verschiedene Glasfirmen geprüft, beraten und entwickelt. Seit 2006 hat er ein eigenes Ingenieurbüro in Bottighofen am Bodensee. Er berät Firmen und Kunden zu innovativen Lösungen im Fassadenbau. Für Glasanwender macht Roehner auch die erwähnten thermischen Spannungsanalysen.

Jetzt weiterlesen und profitieren.

+ Glaswelt E-Paper-Ausgabe – jeden Monat neu
+ Kostenfreien Zugang zu unserem Online-Archiv
+ Fokus GW: Sonderhefte (PDF)
+ Weiterbildungsdatenbank mit Rabatten
+ Webinare und Veranstaltungen mit Rabatten
uvm.

Premium Mitgliedschaft

2 Monate kostenlos testen

Tags