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Flachglas in 30 Minuten Biegen

Neue Biegeprozesse für die Zukunft

_ Auf den ersten Blick erscheint das Biegen von Flachglas technologisch sehr einfach. Für den Biegeprozess wird Flachglas auf einer Form liegend in einem Ofen bis zur Biegetemperatur erwärmt, wodurch sich das bei dieser Temperatur zähflüssige Glas unter seinem Eigengewicht an die Form anpasst.

Nach dem Abkühlen wird das umgeformte Glasteil entnommen. In der Praxis stößt der Glasbieger dennoch vielmals an die Grenzen des Machbaren, sei es weil das Bauteil nicht die gewünschte genaue Konturabbildung erhält oder optische Makel wie Welligkeiten oder störende Abdrücke an der Glasoberfläche vorzufinden sind.

Die Schwierigkeit liegt in der Berücksichtigung aller Einflussgrößen, denn Glas reagiert im Bereich der Biegetemperatur um die 600 °C sehr empfindlich. Nur wenige Grad Temperaturunterschied reichen, um das zeit- und temperaturabhängige Verformungsverhalten in der Größenordnung von Zehnerpotenzen zu verändern.

Es ist daher nicht verwunderlich, dass in der Praxis oft zahlreiche Trial-and-Error-Schleifen vor der eigentlichen Produktion stehen. Die aufkommende Vielfalt an Produkten, wie Dünnglas mit Stärken kleiner 4 mm und funktionalen Beschichtungen (Wärmedämmung, Sonnenschutz u. a.), erweitert das Spektrum beim Biegen, stellt jedoch gleichzeitig bei der Fertigung an den Verarbeiter neue Herausforderungen.

Automatisiertes Biegen

Durch Automatisierung und kürzere Prozesszeiten könnten Glasbieger Kosten sparen und gebogene Glasprodukte in hoher Qualität günstiger anbieten. Ein vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördertes Projekt hatte zum Ziel, flexibles Flachglasbiegen durch Nutzung neuer Techniken zu realisieren.

Die Grundidee: Das Glas wird dort erwärmt, wo es gebogen wird und es wird zur Verteilung der Gewichtskraft möglichst während des gesamten Prozesses durch viele Auflagepunkte unterstützt, damit keine Abdrücke an der Glasoberfläche entstehen. Hierfür wurde am Fraunhofer IWM in Freiburg eine weltweit einzigartige Biegeanlage aufgebaut. Kern der Anlage ist die mit Umluft beheizte Ofenkammer, die Glasscheiben bis zu 1 x 1 m aufnehmen kann. In der Biegezone lässt sich das Glas lokal, durch gezielt über Düsen einströmende Heißluft oder mittels Infrarotlaser auf höhere Temperaturen erwärmen. Der Laser wird mithilfe eines Scannersystems an das Glas geführt. Weiter ist die Anbringung von Infrarotwärmestrahlern im Ofenraum realisierbar.

Damit das Glas während des Prozesses an möglichst vielen Stützpunkten Kontakt mit der Form erhält, ist die Biegeform automatisiert verstellbar und bietet dem Flachglas zunächst eine ebene Auflagefläche. Sie wird „im Kalten“ beschickt und fährt dann in den vorgewärmten Ofen. Dort wird das Glas durch die Ofenwärme und die Zusatzheizer auf das für das Biegen vorgesehene Temperaturfeld gebracht.

Zeitlich gesteuert wird dann die Form vom ebenen Zustand in die Endkontur gefahren. Damit endet auch der Biegeprozess, das Glas wird nun abgekühlt, entweder im Ofen oder an der Raumluft. Zudem steht zum Kühlen ein Luftgebläse mit hohen Volumenströmen zur Verfügung. Im Vergleich zu üblichen Industrieprozessen mit Prozesszeiten zwischen 6 und 8 Stunden benötigt die neue Technik für den Biegeprozess samt Aufwärmen und Abkühlen des Glases nur rund 30 Minuten und lässt sich zudem gut in vorhandene Fertigungsketten integrieren.

Online Temperaturcheck möglich

Die Biegeanlage verfügt weiter über eine Messeinrichtung, über die die Temperatur der Glasoberfläche während des gesamten Prozesses erfasst wird. Das Fraunhofer-Institut für Silicatforschung ISC entwickelte hierfür ein neuartiges Konzept zur präzisen, berührungsfreien Temperaturmessung, welches auf einem pyrometrischen Messverfahren mit häufigen Referenzmessungen beruht. Durch einen periodisch bewegten Scannerspiegel tastet das Pyrometer die Oberfläche der Scheibe in x- und y-Richtung ab. Durch die Referenzmessungen an Hohlraumstrahlern wird eine sehr hohe Reproduzierbarkeit der Temperaturmessung (ca. ±1 K) erreicht.

Die temperaturabhängigen Emissivitätswerte der Gläser sowie die Abhängigkeiten der pyrometrischen Temperaturmessung von Messwinkel und Abstand wurden experimentell ermittelt und für die Korrekturen der Messwerte in die Software der Temperaturmessung und Anlagensteuerung integriert. Mit diesen Daten ist es möglich, die Temperatur einer Scheibe während des Biegeprozesses individuell ortsaufgelöst zu messen und durch eine selektive Nachbeheizung zu optimieren.

Simulation des Biegeprozesses

Durch den Einsatz fortschrittlicher Materialmodelle wird sichergestellt, dass das Werkstoffverhalten realitätsnah beschrieben wird. So lassen sich z. B. Temperaturverteilungen im Glas modellieren, die sich mit einem präzise steuerbaren Laser dann praktisch umsetzen lassen. So können auch Verformungen und Spannungen im Glas berechnet und bewertet werden.

Die dafür notwendigen Materialdaten zum thermischen Verhalten der Gläser für die Simulation und zur Durchführung der Biegeversuche ermittelt das Fraunhofer ISC durch thermo-optische Messverfahren. Die notwendigen temperaturabhängigen Glasparameter, wie Verformung und Viskositätsfixpunkte (Glasübergangstemperatur, Littleton- und Einsink-Temperatur), Temperatur- und Wärmeleitfähigkeit, Benetzungs- und Klebeverhalten, werden berührungslos optisch gemessen.

Forschung für die Fertigung

Für Projekte zum Flachglasbiegen stellt das Fraunhofer IWM der Glasbranche mit der neuen Biegeanlage eine umfangreiche Ausstattung zur Verfügung, die sich für neue Forschungsvorhaben individuell anpassen und erweitern lässt. Dabei bringen die Fraunhofer Wissenschaftler zudem ihr Prozess- und Werkstoff-Know-how mit ein, sodass sich Prozesse entlang der Wertschöpfungskette ganzheitlich untersuchen lassen. —

Vorzüge des neuen Biege-Verfahrens:

  • Lokale Aufheizung von Scheiben mit unterschiedlichen Wärmequellen möglich
  • An Biegegeometrie angepasste Temperaturverteilung im Glas möglich
  • Verstellbares, nachführbares Biegewerkzeug
  • Hohe Automatisierbarkeit und geregelte Prozesskontrolle durch Online-Temperaturerfassung
  • Energieeffizientere, schnellere Prozesszeiten
  • Hohe Produktqualität hinsichtlich Konturgenauigkeit und Oberflächengüte
  • Reproduzierbarer Verfahrensablauf
  • Prozesse gut auf Industrieformate skalierbar

www.fraunhofer.de

Die Autoren

Tobias Rist ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fraunhofer IWM, sein Arbeitsschwerpunkt liegt in der Erforschung von Glasbearbeitungsverfahren.

Martin Kilo ist wissenschaftlicher Leiter des Bereiches Glas und mineralische Werkstoffe am Fraunhofer ISC. Neben der Entwicklung neuer Gläser sind thermische Prozesse für die Glasherstellung und -verarbeitung Schwerpunkt seiner Arbeiten.

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