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Plädoyer für den Meisterbrief

Bitte keine “Idioten in Latzhosen“

_ Aus gutachterlicher Sicht lässt sich die Fenstermontage in den letzten Jahren in zwei Klassen unterteilen: Zum einen in die Montage mit gut ausgebildetem Personal, bei denen der Firmenchef eine Meisterausbildung besitzt und die Mitarbeiter – in der Regel ausnahmslos – ausgebildete Fachkräfte sind.

Zum anderen in Montagebetriebe, bei denen vom Chef bis zur Hilfskraft niemand über eine entsprechende Fachausbildung verfügt.

Während bei ersteren eine gute handwerkliche Basis und Fachwissen vorhanden sind, welche dabei helfen, gravierende technische Fehler zu vermeiden, können letztere Betriebe gerne mit dem Synonym „Idioten in Latzhosen“ bezeichnet werden.

Monteuren mit einer Fachausbildung unterlaufen hin und wieder leichtere Fehler, die nur dann existenzgefährdend werden, wenn sie an den buchstäblichen „Zeigefinger hebenden Lehrer Lämpel“ geraten, der zum einen denkt, aufgrund seiner akademischen Ausbildung alles besser zu wissen als der Handwerksgeselle vor Ort, der weder im familiären Umfeld noch im Freundeskreis einen Handwerker persönlich kennt und beim Montagetermin enttäuscht ist, dass er mit dem Monteur nicht über Kants „Kritik der reinen Vernunft“ diskutieren kann.

Ein Phänomen, welches bei Montagebetrieben mit Monteuren ohne Fachausbildung bei gutachterlichen Ortsterminen häufig auffällt ist, dass Fachausdrücke wie „Rollladentraversenarmierung“, „Sohlbank“, „Blendrahmen“, „Trägheitsmoment“, „Windlast“, etc. weder im aktiven noch im passiven Wortschatz beherrscht werden. Vom Ablesen einer „Belastungsbreite“ in einer Statiktabelle ganz zu schweigen.

Sehr ausgeprägt sind dagegen die Eigenschaften bis in die Nacht oder samstags zu arbeiten und eine Schulbank das letzte Mal im Alter von 15 Jahren gesehen zu haben.

Diese Betriebe produzieren nicht nur einen immer größer werdenden volkswirtschaftlichen Schaden – sie schaden dem Handwerk im Allgemeinen und dürften die Bezeichnung „Handwerksbetrieb“ eigentlich nicht führen, da das Wort „Handwerk“ eine „Ausbildung“ bzw. „Spezialisierung“ impliziert.

Als der französische König Heinrich IV. 1603 in Honfleur drei Schiffe mit dem Ziel Kanada zu erschließen losschickte, bestand die Mannschaft der Schiffe aus ausgebildeten Schmieden, Schiffs-Zimmerleuten, Maurern, Metzgern und Bauern, weil klar war, dass zum Besiedeln eines menschenleeren Gebietes zuerst gut ausgebildete Handwerker gebraucht werden. Verwaltungsbeamte konnten warten. Wären diese Schiffe mit den heutigen nicht ausgebildeten Monteuren besetzt worden, man hätte in Kanada kaum den ersten Winter überstanden. Wären gar die Schiffe von diesen „Monteuren“ gebaut worden, man hätte kaum die Hafenmole von Honfleur erreicht. Und wenn damals an die Ausbildung von Navigatoren von politischer Seite dieselben Ansprüche gestellt worden wären, wie sie heute für Fenstermonteure gelten – die Schiffe würden noch immer Kanada suchen …

Nach dem Motto „ich habe zwar noch nie ein Fenster montiert, aber so schwer kann es ja nicht sein“ wird losgelegt. Als Gutachter steht man mit offenem Mund vor Ort und denkt, dass der verstorbene Kurt Felix mit seiner versteckten Kamera gleich um die Ecke kommt.

In einem aktuellen Fall hat ein Montagebetrieb mit unausgebildeten Mitarbeitern innerhalb eines Jahres allein an den Gerichtsgutachter so viel bezahlen müssen, dass mit diesem Geld einem Mitarbeiter die Meisterschule hätte bezahlt werden können. Von den weiteren Kosten ganz zu schweigen. Das Argument, die Meisterausbildung wäre zu teuer, kann also nicht angeführt werden. Die Kosten für einen – durch gute Ausbildung – vermiedenen Rechtsstreit übersteigen eine Meisterausbildung in der Regel bei weitem.

Resümee

Wer von politischer Seite permanent mehr Geld für die Bildung fordert, die Bildung als das maßgebliche Mittel zum Erreichen eines breiten gesellschaftlichen Wohlstandes ansieht, gleichzeitig aber die handwerkliche Meisterausbildung als veraltet und nicht mehr zeitgemäß bezeichnet, handelt zum einen schizophren und unglaubwürdig und muss zum anderen akzeptieren, dass durch unqualifizierte Betriebe ein großer volkswirtschaftlicher Schaden entsteht.

Wer sich als Privatkunde bei einer Baumaßnahme nicht die Mühe macht, den Ausstellungsraum eines Betriebs zu besuchen, mit dem Firmeninhaber zu sprechen und diesen Betrieb kennen zu lernen, wer statt dessen blind nur den billigsten Anbieter wählt, muss die Qualität akzeptieren, die er bekommt.

Aus Sicht des vereidigten Sachverständigen bedanke ich mich für die Novellierung der Handwerksordnung unter dem damaligen Minister Müntefering. Noch nie hatte ich so viel zu tun wie heute.—

Der Autor

Jürgen Sieber ist Betriebswirt und Glasermeister, öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für das Glaser- und Fensterbauer-Handwerk. Zusätzlich unterrichtet er an der Meisterschule für Glaser- und Fensterbauer in Karlsruhe

www.fensterbau-sieber.de

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