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Entwicklungsgeschichte und Stilepochen, Teil 6

Ornament und Funktion

Mit dem Sprung ins 20. Jahrhundert nahm die Entwicklungsgeschichte des Fensters – gemessen an den Trippelschritten zuvor – rasant an Fahrt auf. Triebfeder war die Industrielle Revolution, die bereits seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts überall in Europa die Schlote zum Qualmen gebracht hatte. Zwar zählten einfach verglaste Holzfenster mit Drehflügeln bereits im Klassizismus (Ende 18. Jhr.) und dem darauf folgenden Historismus (bis ca. Mitte 19. Jh.) zum ­festen Bestandteil eines Gebäudes, jedoch wurden die Profile für Rahmen und Flügel noch immer von Hand gefertigt und gefügt. Bis endlich um 1830 die ersten Werkzeug- und Maschinenfabriken der seriellen Produktion bahnbrachen, blieben Handsäge, Rauhbank, Schlichthobel sowie Falz- und Profilhobel die wichtigsten Werkzeuge für die Fensterherstellung. Führt man sich beispielsweise vor Augen, wie mühevoll es gewesen sein muss, mit solchen Werkzeugen die vielen Verzierungen und Ornamente zu schnitzen oder das komplizierte Wolfsrachenprofil herzustellen, versteht man, weshalb Fenster bis weit ins 19. Jahrhundert hinein zu den Luxusgütern gehörten.

Erst die industrielle Fertigung der Profile ­ und Gläser machte das Fenster an der Schwelle zum 20. Jahrhundert zum Gebrauchsgut – und gebar mit der prosperierenden Eisen- und Stahlproduktion erstmals eine stoffliche Alternative zum traditionellen Holzfenster: Profile aus Gusseisen, später aus Walzstahl, brachten nicht nur statische Vorteile mit sich, sondern erlaubten auch viel schlankere ­Profilgeometrien. Dazu passte deren zierliche Optik perfekt zu den dekorativ geschwungenen Linien und floralen Ornamenten des Jugendstils. Einer kunstge­schichtlichen Epoche, die auch als Art Nouveau, Modern Style oder Wiener Secession den Übergang in das 20. Jahrhundert begleitete und nach dem Ende des 1. Weltkriegs von der Bauhaus-Bewegung abgelöst wurde.

Mystische Spielerei

Im Jugendstil spielte das Fenster als Gestaltungsmittel eine eher ambivalente Rolle: Einerseits zog es sich als neutrales Galgenfenster hinter die baulichen Spielarten des Jugendstils zurück, andererseits betonte es geschickt als neogotisches oder neobarockes Einzelgebilde dessen Ausdrucksform, wenn sich an Fassaden Elemente des Jugendstils mit solchen des Historismus verbündeten. Außergewöhnliche Fensterformen, verspielt, geschwungen und verziert, sowie engmaschige Sprossenteilungen, aus funktionaler Sicht bar jeder Vernunft, aber wunderschön anzusehen, zierten die noch immer vornehmlich im Wohnungsbau anzutreffenden Holzfenster ebenso wie die Stahlfenster in liebevoll gestalteten Gewerbe- und Industriebauten. Die dekorative und zugleich abstrakte Schönheit des Jugendstil fand sich auch auf den Beschlägen und in Bleiverglasungen, vorzugsweise in pflanzlichen Motiven wie Gräsern, Zweigen und Ranken oder aber weich fallenden Haaren und fließendem Wasser. Viele Figuren und Formen wirken verklärt und mystisch, umgeben von einer Aura des Geheimnisvollen und Esoterischen, die bis heute ihre Wirkung nicht verloren hat.

Form follows function

Mit dem Beginn des 1. Weltkriegs endet die Ära des Jugendstils – binnen vier Jahren Leid, Tod und Zerstörung haben sich die Leitlinien des „Neuen Bauens“ ins Gegenteil verschoben. Der Architekt Walter Gropius fordert in seinem Manifest zur Gründung des Staatlichen Bauhauses in Weimar: „Das Endziel aller bildnerischen Tätigkeit ist der Bau!“ Ihm geht es nicht darum, einen neuen Stil oder eine neue Kunstrichtung auszurufen, sondern viel grundsätzlicher, die Trennung zwischen Kunst und Handwerk zu überwinden und eine Gesamtumgebung zu schaffen, die auf die Bedürfnisse der Menschen zugeschnitten ist. Fortan gilt „form follows function“, was in Bezug auf das Bauteil Fenster bedeutet: Jede nicht unbedingt erforderliche Gliederung, wie zum Beispiel die Sprossen, ist abzulehnen. Das typische Bauhaus-Fenster zeigte sich als unsymmetrisches Gebilde, das in einen großen und einen kleinen Flügel mit jeweils ungegliedertem Rahmen unterteilt war [1].

Das schlichte und schmal profilierte Stahlfenster stand nun auch für Wohnungsbauten hoch im Kurs, wenngleich es hinsichtlich Wärmeschutz und Wärmebrücken erbärmliche Qualitäten aufwies. Ungeachtet dessen wurde an vielen Bauten im Sinne der Bauhausphilosophie versucht, das Fenster im herkömmlichen Sinn durch Fensterverbände und Rasterverglasungen zu ersetzen, um so die Fassade zu gliedern und ein Maximum an Tageslicht ins Gebäude zu holen.

Den Nazis waren die sozialistisch geprägten Ideen des Bauhauses ein Dorn im Auge, weshalb sie das inzwischen nach Dessau umgesiedelte Bauhaus kurz nach der Machtergreifung schlossen und die Werke früherer Bauhaus-Lehrer in der Schandausstellung „Entartete Kunst“ (1937) öffentlich verhöhnten.

Größenwahn und Heimatstil

Die Leitlinien der nationalsozialistischen Baupolitik passten der herrschenden Ideologie und Propaganda wie angegossen. Monumentalität, die den Menschen als Individuum überspielen sollte, war selbst bei kleineren Repräsentationsbauten das erklärte architektonische Ziel. Dem hatten sich alle Bauteile, auch Türen und Fenster, unterzuordnen beziehungsweise mussten dieses Bemühen um jeden Preis unterstützen. Der gemeine deutsche Wohnungsbau war hingegen jenseits der Bauhausgesinnung und Nazi-Propaganda seit der Ära der Weimarer Republik vom sogenannten Heimatstil dominiert. Anstatt Lichtbänder und überdimensionale Gebäudeöffnungen bevorzugten die deutschen Häuslebauer eine traditionalistische Bauweise mit Erkern, Türmchen und kleinen Fenstern. In Fachbüchern aus jener Zeit wird argumentiert [2]: „Ein überbelichteter Raum wirkt unwohnlich, da man einen Unterschied zwischen dem Freien und dem Raum kaum noch empfindet. Das Gefühl des ‚Unräumlichen‘ macht das Zimmer ungemütlich.“

Der Architekt Paul Schultze-Naumburg, aktives NSDAP-Mitglied und Bauhaus-Gegner, sprach sich für den Fortbestand der Sprossen aus und verunglimpfte die Bauhaus-Lehre [3]: „Der einzelne Rahmen des Fensters wird in der Regel nicht mit einer einzigen Scheibe verglast, sondern erhält eine Unterteilung durch Sprossen. ... Puristen haben zwar verlangt, dass man aus dem Grunde, weil man ganz große Scheiben herstellen könne, verpflichtet sei, die ‚veraltete‘ Sprossenteilung fallen zu lassen. Wie fast immer beruhen solche doktrinären Forderungen auf Denkfehlern.““

In den meisten Wohnhäusern der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren drei Grundtypen des Fensters vertreten: Das Zargenfenster, das Blendrahmenfenster und vereinzelt beziehungsweise in manchen Regionen das doppelte Blendrahmen- oder Kastenfenster. Schiebefenster fanden sich wegen ihrer mangelhaften Luftdichtheit fast nur noch in Loggien und Wintergärten – hin und wieder auch in Büro- und Verwaltungsbauten.

Trotzdem war es um den Wärmeschutz der meisten Holz- und Stahlfenster in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch immer sehr schlecht bestellt – bestens dokumentiert in den kalten Wintermonaten, wenn sich bizarre Eisblumen auf den Scheiben bildeten. —

[1] Gerner, Manfred, Dieter Gärtner, Historische Fenster – Entwicklung, Technik, Denkmalpflege, Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart, 1996

[2] Meyer, Otto, Türen und Fenster, Ihre Gestaltung nach alten und neuen Handwerkstechniken, Berlin 1924

[3] Schultze-Naumburg, Paul, Der Bau des Wohnhauses, Band 1, 3. Auflage, Verlag von Georg D. W. Callwey, München 1924

Der Autor

Klaus Siegele war nach einer Schreinerlehre und dem Architekturstudium zehnJahre Redakteur bei der db ­deutsche bauzeitung und führt seit 2000 ein eigenes Architekturbüro. Er ist Fach- und Buchautor für Architektur, Bautechnik, Nachhaltigkeit und energieeffizientes Bauen und für viele Fachzeitschriften, u.a. den Gebäude-Energieberater GEB, ­tätig.

https://bau-satz.de/

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