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Revolutionäres Belüftungssystem für doppelverglaste Fassaden

An menschlicher Haut orientiert

_ Hochhäuser mit Glasfassaden sind Energiefresser: Sie heizen sich auf wie Treibhäuser und müssen daher die meiste Zeit des Jahres gekühlt werden. Architekten und Architektinnen der Technischen Universität München (TUM) haben jetzt ein Belüftungssystem für doppelverglaste Fassaden entwickelt, mit dem sich der Energieverbrauch dank autoreaktiver Komponenten ohne großen technischen Aufwand nahezu halbieren lässt.

Fundamental anderer Ansatz

„Unser Ansatz ist fundamental anders als alle bisherigen Konzepte: Seit Jahrzehnten wird die Klimatisierung verglaster Büro- und Verwaltungsgebäude immer komplexer. Wir hingegen erarbeiten Lowtech-Lösungen, die gleichzeitig sehr effizient sind“, berichtet Dr. Philipp Molter. Der Architekt an der TUM-Professur für Entwerfen und Gebäudehülle hat ein Belüftungssystem für doppelverglaste Fassaden entwickelt, das sich automatisch öffnet, wenn die Temperatur über einen bestimmten Wert steigt und sich wieder schließt, wenn es kühler wird.

Verglichen mit anderen Belüftungssystemen ist Molters Konzept erstaunlich einfach: „Unser Vorbild ist die menschliche Haut: Sie schützt uns vor Überhitzung, indem sich die Poren öffnen. Das geschieht automatisch, ohne dass wir darüber nachdenken müssen.“

Kernstück der von ihm entwickelten Ventflex-Technik sind paraffingefüllte Thermozylinder. Das Wachs-Öl-Gemisch im Inneren der Zylinder dehnt sich aus, wenn die Temperatur über einen bestimmten Wert ansteigt. Die Volumenerhöhung erzeugt einen Druck, der die Zylinder wie Teleskope auseinanderschiebt. Sinkt die Temperatur ab, ziehen sie sich wieder zusammen.

Bisher wurden Thermozylinder nur eingesetzt, um Lüftungsschlitze in Gewächshäusern zu öffnen und zu schließen. In seinem jetzt abgeschlossenen Forschungsprojekt konnte Molter zeigen, dass sich die Technik auch eignet, um Doppelglasfassaden effizient, kostengünstig, energiesparend und ohne aufwendige elektronische Steuerung zu kühlen.

Die Elemente der neuen Lowtech-Fassade unterscheiden sich optisch nicht von gängigen Fassadenelementen. Die äußere Scheibe der doppelverglasten Kastenfenster ist allerdings nicht fix montiert, sondern an allen vier Ecken über die Thermozylinder mit dem Rahmen verbunden.

Steigt die Temperatur zwischen den Scheiben auf über 23 °C, drücken die Zylinder die äußere Glasfront um fünf Zentimeter nach außen. Durch den Schlitz zwischen Rahmen und Scheibe kann kühlere Außenluft eindringen und den Scheibenzwischenraum – in dem sich der aufgeheizte Sonnenschutz befindet – natürlich belüften. Sinkt die Temperatur auf unter 23 °c, schließt sich der Spalt automatisch wieder. Die Reaktionszeit beträgt dabei nur wenige Minuten. Im Winter bleibt das Fassadenmodul an kalten Tagen geschlossen, um die Büroräume vor dem Auskühlen zu schützen.

Simulationen, die am TUM-Lehrstuhl für Gebäudetechnologie und klimagerechtes Bauen durchgeführt wurden, belegen, dass das neue Lowtech-Konzept äußerst effizient ist: Verglichen mit modernen Fassaden lassen sich bis zu 50 Prozent der Energie, die zum Heizen und Kühlen benötigt wird, einsparen. Bei Hochhäusern aus den 70er- und 80er-Jahren, die noch nicht renoviert wurden und die daher besonders viel Energie verbrauchen, können die Einsparungen erheblich größer sein. Somit könnte das autoreaktive Lüftungssystem, das Molters Team zusammen mit dem Fassadenunternehmen Frener & Reifer konzipiert hat, helfen, die 2015 in Paris vereinbarten Klimaziele zu erreichen. Derzeit verschlingt das Heizen und Kühlen von Gebäuden weltweit fast 40 Prozent der verbrauchten Energie.—

www.tum.de

Zur Person

Dr.-Ing. Architekt Philipp Lionel Molter arbeitete mehrere Jahre als Architekt bei Renzo Piano Building Workshop (Paris). 2010 gründete er sein eigenes Büro und realisierte mehrere preisgekrönte Projekte. Bereits seit 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Entwerfen und Gebäudehülle der Technischen Universität München. Seine Forschung und Lehre konzentriert sich auf adaptive Gebäudehüllen und deren ästhetischen Potenziale und energetische Leistungsfähigkeit. 2016 erhielt er den Dr. Marschall-Preis für seine herausragende Dissertation an der Fakultät für Architektur der Technischen Universität München.

Kurzinterview

GLASWELT – Herr Dr. Molter, was versteht man unter autoreaktiven Komponenten?

Dr. Philipp Molter – Autoreaktive Systeme reagieren direkt auf äußere Einwirkungen ohne Einsatz von Regelungs- bzw. Steuerungseinheiten. Charakteristisch für diese Systeme ist die Tatsache, dass keine elektrische o. ä. Energie von außen zugeführt werden muss, um Adaptionsziele zu erreichen. Ein Vorteil der autoreaktiven Systeme liegt in der Reduktion von Komplexität und Autarkie, denn solche Systeme agieren dezentral und sind nicht an übergreifende Steuerungssysteme gebunden. Im Gegensatz zu der autoreaktiven Adaption ist bei gesteuerter Adaption die Zufuhr externer Energie erforderlich. Diese wird eingesetzt, um die Regelung bzw. Steuerung der Sensoren und Aktuatoren zu aktivieren. Externe und zusätzliche Sensoren überprüfen die Beanspruchungen der Umgebung und regeln die Umwandlung des Systems.

GLASWELT – Im Beitrag werden die 23 °C als „auslösende Temperatur“ genannt. Doch wenn die Luft außen darüber liegt, macht es dann noch Sinn, den Spalt zu öffnen, wenn zwischen den Scheiben die 23 °C erreicht wurden?

Dr. Molter – Durch die Bewegung der autoreaktiven Systeme, der Dehnstoffarbeitselemente, wird das Parallel-Ausstellfenster geöffnet und die Cavity durchlüftet. Somit wird ein weiteres Aufheizen des Fassadenzwischenraumes verhindert. Im Sommer sorgt so ein belüfteter Zwischenraum für die Evakuierung von stark erwärmter Luft, die auf die absorbierte Wärme am Sonnenschutz zurückzuführen ist. Dieser Effekt reduziert die Kühllasten im Vergleich zum geschlossenen Fassadenzwischenraum um fast 50 %. Denn dauerhaft geschlossene Fassadenzwischenräume heizen sich bis auf 90 °C auf. Zudem verhindert das so reduzierte Temperaturniveau eine Beschädigung des Sonnenschutzes, da zu hohe Temperaturen an Sonnenschutzeinrichtungen zu technischen Problemen an Jalousien und deren kinetischen Komponenten führen können. Im Winter, wenn die Außentemperaturen niedrig sind, verbessert die zusätzliche Pufferzone des Fassadenzwischenraums den U-Wert, der die Heizlasten im Vergleich zu einem immer offenen Fassadenzwischenraum um fast 45 % signifikant verringert. Die Simulation zeigt aber vor allem, dass der geöffnete Fassadenzwischenraum nur ein Fünftel des Jahres geschaltet ist. Folglich wird auch die Reinigungs- und Wartungshäufigkeit beträchtlich reduziert, was insofern als eine wesentliche Kostenreduzierung bezeichnet werden kann.

GLASWELT – Funktioniert der Mechanismus immer bei 23 °C oder kann man auch andere Temperaturen einstellen?

Dr. Molter – Die Aktivierungstemperatur kann individuell durch die Mischung des Paraffins eingestellt werden. Hierfür ist eine Standortanalyse wichtig und die Fassadenausrichtung relevant.

GLASWELT – Können Sie sich vorstellen, wo dieses System noch einsetzbar ist?

Dr. Molter – Grundsätzlich kann das System mit anderen Aktivierungstemperaturen auch der Nachtauskühlung dienen. Öffenbare Klappen würden so angesteuert, dass sie bei zu hoher Temperatur geschlossen bleiben und in der Nacht, wenn die Außentemperatur unter 20 °C fällt, die Innenräume und damit die Speichermassen wie Betondeckenplatten und Aufzugskerne auskühlen. Eine natürliche Durchlüftung von Atrien könnte so autoreaktiv gesteuert werden.

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