Die Bauwende beginnt im Bestand: Rund 60 Prozent aller Gebäude in Europa wurden vor 1980 gebaut. Viele von ihnen entsprechen weder energetisch noch funktional den heutigen Anforderungen. Hier liegt ein enormes Potenzial: Mit Blick auf die steigenden Anforderungen an Energieeffizienz und Bauqualität gilt es, wirtschaftlich tragfähige Konzepte zu entwickeln, die zugleich gestalterisch überzeugen und praktisch umsetzbar sind. Genau an dieser Schnittstelle – zwischen Vision und Machbarkeit – setzte das 10. NEXT Expertenforum an.
Unter der Moderation von Christian Mettlach, Leiter des NEXT Studios, diskutierten Planer, Architekten und Fassadenbauer, wie sich der Gebäudebestand nachhaltig weiterentwickeln lässt und die Branche davon profitieren kann.

Matthias Rehberger / GW
Repositionierung: Der Gebäudebestand von morgen
Gleich zu Beginn machte Jan Kertscher, Associate Director bei Arup, klar: Der Löwenanteil der Gebäude, die 2050 noch genutzt werden, steht bereits heute. Gleichzeitig droht ein großer Teil der Büroimmobilien in Deutschlands Metropolen in den kommenden Jahren wirtschaftlich unrentabel zu werden.
Gerade in den zentralen Innenstadtlagen entsprechen viele dieser Gebäude heute (oder in naher Zukunft) nicht mehr den Anforderungen an Klimaschutz, Energieeffizienz und Nutzung. Der Sanierungsbedarf ist gewaltig – doch wer hier anpackt, hat die Chance auf gute Aufträgen, denn es lohnt sich schon alleine aufgrund der Lage dort den wertvollen Baubestand zukunftssicher zu machen.
Spannende Projekte: Revitalisierung von Bahnhöfen
Auch bei der Bahn spielt das Bauen im Bestand eine wichtige Rolle. Stephanie Brendel, Leiterin Planung und Architektur bei DB InfraGO, erläuterte, wie bei der Revitalisierung von Bahnhöfen (über 600 in Deutschland) – von denen viele unter Denkmalschutz stehen – digitale Technologien eine enorme Hilfe darstellen.

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Von der digitalen Bestandsaufnahme über die Materialdokumentation bis zur Planung auf Basis digitaler Zwillinge: Der Einsatz moderner Werkzeuge hilft, Abläufe zu beschleunigen und Bauqualität zu sichern – auch in komplexen, historisch sensiblen Projekten.
So sieht Bestandsaufwertung im Detail aus: Sanierungsfenster in der Praxis
Sehr eindrucksvoll war der Beitrag von Thomas Blacher, Geschäftsführer des österreichischen Fassadenspezialisten Heidenbauer Aluminium. Seit über 20 Jahren ist sein Unternehmen auf die Modernisierung und Sanierung bestehender Gebäudehüllen spezialisiert.
Beim Projekt Revitalisierung des Omegahauses in Offenbach, das gemeinsam mit Wicona und Saint-Gobain umgesetzt wurde, ging es darum, das Gebäude energetisch zu sanieren, ohne seine äußere Erscheinung grundlegend zu verändern.

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Statt einer vollständigen Erneuerung wurde präzise nachgerüstet: 4450 Fensterflügel wurden ausgetauscht, die bestehende Fassade blieb dabei weitgehend erhalten. Hierfür entwickelte der Fassadenbauer gemeinsam mit Wicona ein spezielles Sanierungsfenster.
Die Sanierung wurde auf Basis eines digitalen Zwillings geplant. Die komplette Bestandssituation wurde dokumentiert, Bauanschlüsse wurden geprüft, die Statik bewertet. Nur so ließ sich genau festlegen, welche Maßnahmen notwendig und sinnvoll sind. Blacher betonte, wie wichtig eine materialgerechte Demontage sei – etwa bei der Rückführung alter Aluminiumprofile, Gläser oder Dichtungen in den Recyclingkreislauf. Nachhaltigkeit bedeute hier nicht nur Dämmwert, sondern auch zirkuläres Bauen.
Hier finden Sie Details zum Omegahauses und zum Wicona Sanierungsfenster
Eines der Ziele der Revitalisierung war es, die energetischen Anforderungen des EGB-55-Standards zu erreichten.Die Gebäudeoptik wurde erhalten, der Energieverbrauch deutlich reduziert. Dies wurde erreicht und die LEED-Gold-Zertifizierung des Omegahauses belegt, was eine hochwertige Sanierung auch wirtschaftlich leisten kann.
Thomas Blacher unterstrich: „Die technische und logistische Herausforderung war groß – aber lösbar. Doch das geht nur, wenn Fachwissen, Planungstiefe und Präzision zusammenspielen, sprich, wenn alle Baubeteiligten gemeinsam im Boot sitzen.“

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Sanierung neu gedacht – Rückbau oder Weiterbau?
Dass Rückbau nicht gleich Abriss bedeutet, zeigten die Architekten Sebastian Schuster und Alexander Dill von Schmidt Plöcker Architekten. In einem internen Forschungsprojekt untersuchen sie, wie sich die CO₂-Emissionen in der Bauwirtschaft bis 2030 um ein Drittel senken lassen – und zwar durch Wiederverwendung, Revitalisierung, zirkuläres Bauen und dem Einsatz digitaler Tools.
Entscheidend sei dabei vor allem auch die Bestandsaufnahme. Denn nur, wer ein Gebäude in seiner Struktur, seinem Zustand und seiner Geschichte wirklich versteht, kann sinnvolle Sanierungskonzepte entwickeln.

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Gerade im Zusammenspiel mit dem Denkmalschutz erfordert das kreative Lösungen und ein hohes Maß an Flexibilität. Häufig treten bei der Umsetzung unvorhersehbare Herausforderungen auf, die spontane Anpassungen nötig machen – hier sind Bauleitung und Handwerk gefordert, eng zusammenzuarbeiten und agil zu reagieren.
Den Schlusspunkt setzte Hans-Georg Schmitt, Technischer Bereichsleiter „Bauen im Bestand“ bei der Züblin AG. Er plädierte dafür Sanierung und Revitalisierung als Chance zu sehen. Voraussetzung dafür sei eine enge Zusammenarbeit aller Beteiligten, von der Planung über das Handwerk bis zur Bauausführung.
Nur wenn alle an einem Strang ziehen, lassen sich die Potenziale des Bestands wirklich ausschöpfen – sowohl wirtschaftlich als auch ökologisch.
Das 10. NEXT Expertenforum machte deutlich: Die Zukunft des Bauens liegt nicht im Abriss, sondern in der Revitalisierung und im intelligenten Weiterbauen. Wer Gebäude nicht neu erfindet, sondern klug erneuert, baut die Zukunft.
Bestand revitalisieren – Zukunft bauen: Das ist kein Schlagwort, sondern ein praxisnaher Fahrplan für die Bauwende.

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